Die Arafat-Waqfa
Die Arafat-Waqfa, welche eine der drei Fara’id (Pflichtbedingungen) des Hadsch ist, ist im Grunde genommen das Hadsch selbst. Der Prophet Muhammed sprach die Wichtigkeit der Arafat-Waqfa mit den Worten „Hadsch ist (befindet sich in) Arafat.“ (Tirmidhi, Hadsch, 57) an.
Arafat ist eine Ebene, die 25 Kilometer von Mekka entfernt liegt, und von drei Seiten mit Bergen umgeben ist. Der Tag von Arafat, also der neunte Tag des Monats Dhu’l-Hiddscha, wird hier bis zum Anbruch der Nacht mit der Verrichtung von Ibadah/Glaubenspraxen verbracht. Zur Gebetszeit des Ritualgebets am Vormittag wird das Ritualgebet am Vormittag (Salah al-Zuhr) und das Ritualgebet am Nachmittag (Salah al-ʿAsr) zusammengelegt (Dscham at-Taqdim, das vorgezogene Zusammenlegen zweier Ritualgebete) verrichtet. Nach dem Ritualgebet wird stehend und zur Kaaba gewandt das Waqfa-Bittgebet gesprochen. Nach dem Gebet gratulieren sich Muslime zur Waqfa und zum Hadsch.
„Arafat“ wurde von einem Wortstamm abgeleitet, der lexikalisch „wissen, verstehen“ bedeutet. „Waqfa“ wiederum bedeutet „der (Still-)Stand, das Warten“. Für den Menschen, der in der davonfliegenden Zeit zwischen nicht enden wollenden Hetzereien versäumt, stillzustehen und zu überlegen, sich über die Bedeutung der Existenz Gedanken zu machen und ein Leben gemäß dem Schöpfungsgrund zu führen, ist Arafat eine große Chance. Der Stillstand bei Arafat ist kein gewohnter Stand, und das Warten ist nicht zwecklos. Waqfa bedeutet, den Täuschungen des Teufels und den üblen Eingebungen der Triebseele nicht nachzugeben und mit dem Glauben stramm dagegen anzuhalten. Arafat bedeutet, stehenzubleiben, um weiterzukommen! Arafat bedeutet, von der Last der Sünden freizukommen!
Arafat ist Selbsterkenntnis, die Erfassung des Grundes und der Weisheit der Schöpfung und die Erlangung der eigenen Wahrheit. Es ist die Realisierung der eigenen Schwäche und der Tatsache, dass alles, was der Mensch für seinen Besitz hält, eigentlich Allah gehört. Für den Menschen bedeutet Arafat, dass er seinen Herrn, Allah, kennenlernt. Dies hingegen ist die höchste spirituelle Stufe, die der Mensch als ein Diener Allahs jemals erreichen kann.
Die Pilger erfahren in ihrer Ihram-Bekleidung, die blütenweiß wie ein Leichentuch ist, regelrecht den Tod. Sie erleben die Bedeutung der Gegebenheit, zu sterben bevor der Tod einen einholt und sich selbst zur Rechenschaft zu ziehen bevor der Tag des Jüngsten Gerichts1 ansteht. Lediglich zur Erlangung der Gnade und Vergebung Allahs warten sie gemeinsam in Seiner Gegenwart. Sie warten in der Hoffnung, zu denjenigen Geschöpfen zu gehören, denen vergeben wurde und die Allah liebt.
Sich bei Arafat zu befinden ist einer der größten Segen, die dem Menschen zuteilwerden können. Mit dem gleichen Glauben und der gleichen Liebe, den gleichen Gefühlen und der gleichen Aufregung erleben in dieser wertvollsten Zeit und an diesem heiligsten Ort Millionen von Gläubigen die Probe des großen Zusammentreffens am Jüngsten Tag. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie an diesem Tag bei Arafat die Stellvertreter aller Muslime sind, und beten nicht nur für sich selbst, sondern flehen für die Glückseligkeit und das Wohl der gesamten muslimischen Glaubensgemeinschaft. Mit Tränen in den Augen bitten sie um Vergebung von ihrem Herrn. Denn sie wissen, dass Arafat der Ort ist, an dem kein Gebet unerwidert bleibt. Der Gesandte Allahs verkündete, dass das vorzüglichste Gebet jenes ist, das am Tag von Arafat gesprochen wird. (Muwatta, Hadsch, 81)
Arafat ist der Tag der Vergebung und der Läuterung von Sünden. Der Gesandte Allahs gab die Vorzüglichkeit dieses Tages mit folgender Aussage bekannt: „Der Teufel wurde niemals verächtlicher und missachtender, beleidigter und aufgebrachter gesichtet als am Tag von Arafat. Der Grund hierfür ist, dass er sieht, wie Rahmat (Gnade Allahs) hinabgesandt wird und dass Allah die großen Sünden vergibt.“ (Muwatta, Hadsch, 81)
Der Prophet Muhammed (saw.) verlas seine berühmte Hutba/Predigt während der Abschiedswallfahrt (Hiddschat al-Wada) bei Arafat und verkündete dort der gesamten Menschheit die Grundrechte der Menschen sowie die universellen Prinzipien des Islam. Muslime sollten sich bei der Ebene von Arafat darum bemühen, diese Mahnungen so zu verstehen, als würden sie die Abschiedspredigt (Hutba al-Wada) des Gesandten Allahs höchstpersönlich von ihm erhören, und sie von dort in ihr Leben zu übertragen.
1 Der Tag des Jüngsten Gerichts ist der Tag, an dem die Menschen aufgrund ihrer Taten auf der Welt im Jenseits von Allah zur Rechenschaft gezogen werden.
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