Die Verantwortung des Elternseins
Ab dem Zeitpunkt seiner Geburt übernimmt der Mensch die Verantwortung, ein Statthalter auf der Welt zu sein. Im Laufe seines Lebens nimmt er neue Rollen und Verantwortungen auf sich. Mutter oder Vater zu werden ist sowohl eine der schönsten als auch der schwersten Verantwortungen, die der Mensch übernimmt. Nachdem die Ehe eingegangen und die Verantwortung des Ehepartner-Seins übernommen wird, bringt diese neue Verantwortung neben Herausforderungen auch Güte (Rahmat) und Schönheiten mit sich.
Indem der Mensch bleibende Zeichen seiner Existenz nach seinem Tod hinterlässt, wird ermöglicht, dass der Wunsch nach ewiger Subsistenz sich nicht in eine Versessenheit entwickelt und dass er die Aufgabe, die Welt zu kultivieren und zu gestalten, gemäß seiner Schöpfung ausführen kann. Zweifelslos ist das Kind eines der bedeutungs- und wertvollen Zeichen, die der Mensch hinterlassen kann.
Die Nachkommen, die dafür sorgen, dass das Buch der Taten/Tatenregister (Amal-Buch) des Menschen selbst nach seinem Tod offenbleibt, können schon von Anfang an zur Dienerschaft ihrer Eltern für Allah beitragen. Denn die Eltern werden Zeuge des Wunders der Schöpfung und stehen dem Erfordernis gegenüber, gute Menschen zu sein, um einen guten Menschen zu erziehen. Eltern im Besitz dieses Bewusstseins können, während sie sich darum bemühen, ein vorzügliches Kind zu erziehen, zugleich erreichen, selbst gute Menschen zu sein. Außerdem verschafft diese schwere Aufgabe den Eltern Ansehen und Ehrwürdigkeit. Im heiligen Koran wird verkündet: „Und Wir haben dem Menschen (das gute Behandeln) seine(r) Eltern anbefohlen – seine Mutter hat ihn unter wiederholter Schwäche getragen, und seine Entwöhnung (erfolgt) innerhalb von zwei Jahren. (Aus diesem Grund befahlen wir dem Menschen Folgendes:) ‚Sei Mir und deinen Eltern dankbar. Zu Mir ist der Ausgang.‘“ (Luqman, 31/14)
Mutter und Vater zu sein erfordert Respekt und Ehrerbietung, doch mindert die Elternschaft nicht die religiöse Verantwortung und mehrt gar unsere Pflichten. (at-Tahrim, 66/6) Um nicht zu den Eltern zu gehören, die sich am Tag des Jüngsten Gerichts1 gegenüber ihren Kindern verschulden, müssen die Rechte der Kinder geschützt und die Pflichten ihnen gegenüber erfüllt werden. Bezogen auf die Anrechte des Kindes über seine Eltern sind die Pflichten der Eltern folgende:
a. Die elterlichen Aufgaben beginnen schon vor der Geburt des Kindes. Allen Anfangs ist es die Pflicht der Eltern, dass sie mit einer maschruʿ2 Eheschließung heiraten, mit einem legalen (halal) Verdienst leben und Bittgebete zu Allah sprechen. Die maschruʿ Ehe wird gewährleisten, dass die rechtlichen Ansprüche des Kindes gewahrt werden und dass das Kind mit Mutter und Vater in einem Familienheim groß wird. Mit dem Verdienst, den die Eltern auf legitimen Wegen erzielen, werden sie sich auf legitimen/halal Wegen versorgen und sich auf die Aufgabe der Elternschaft auf eine reine Art und Weise vorbereiten. (al-Baqara, 2/168) In der Schwangerschaft dauert die Verantwortung der Eltern im Rahmen der Dinge, die sie zu sich nehmen, die sie ansehen, anhören und sprechen, fort. Positive Konversationen, die Tilawah3 des heiligen Korans und schöne Worte während der Schwangerschaft werden zur Erziehung des Kindes beitragen, noch bevor es das Licht der Welt erblickt. Auch in dieser Zeit sollten Bittgebete für das Kind gesprochen werden. Die Mutter von Maryam/Maria ist uns in dieser Hinsicht ein schönes Beispiel aus dem heiligen Koran: „Als Imrans Frau sagte: ‚Mein Herr! Ich gelobe Dir, was in meinem Mutterleib ist, für Deinen Dienst freigestellt. So nimm (es) von mir an! Du bist ja der Allhörende und Allwissende.‘“ (Al-i Imran, 3/35)
b. Mit der Geburt des Babys beginnen neue Verantwortungen für Mutter und Vater. Eltern sollten, wenn das Kind auf die Welt kommt, keinen Geschlechtsunterschied machen, sich von derartigen Angewohnheiten der Dschahiliyyah fernhalten sowie die Macht und den Willen Allahs nicht hinterfragen. (an-Nahl, 16/58-59; az-Zuhruf, 43/17) Sie sollten als ein Zeichen ihres Dankes an Allah für diese einzigartige Gabe - wenn möglich - ein Aqiqah-Opfer4 darbringen (Bukhari, Aqiqah, 2) und dem Kind einen Namen mit schöner Bedeutung geben. (Abu Dawud, Adab, 61) So wie der Gesandte Allahs dazu anregte, dem Kind einen schönen Namen zu geben, änderte er auch Namen mit schlechten und negativen Bedeutungen. Diese Gegebenheit zeigt, dass der Name, der dem Kind gegeben werden soll, mit Bedacht gewählt werden muss.
c. In der frühen Kindheit müssen die körperlichen und seelischen Bedürfnisse des Babys gedeckt sowie vorbildliche Handlungen und Verhaltensweisen seitens der Eltern aufgezeigt werden. Der hauptsächlichste Grundsatz der Eltern sollte Barmherzigkeit in der frühen Kindheit und Liebe in der Kindheit sein. Denn dieser gebildete Bund der Barmherzigkeit, Liebe und Zuneigung wird insbesondere in schwierigeren Zeiten wie der Pubertät die wichtigste Kraft in der Beziehung zwischen Kind und Eltern sein. Auch in der Handhabung des Gesandten Allahs ist diese Annäherungsweise aufzufinden. Er sagte: „Manchmal beginne ich das Ritualgebet mit der Absicht, es lang zu gestalten, aber sobald ich ein Kleinkind weinen höre, verkürze ich es, um seine Mutter nicht zu bedrücken.“ (Bukhari, Adhan, 65) Dass der
Prophet (saw.) sein Ritualgebet verrichtete, obwohl seine Enkelin Umamah von seiner Tochter Zainab auf seinem Schoß war, zeigt, wie nachsichtig und sanftmütig der Gesandte Allahs gegenüber Kindern handelte. (Bukhari, Salah, 106)
Eltern sollten mit ihren Kindern scherzen, jederzeit gut auskommen, ihnen gegenüber nachsichtig sein und sie als Ansprech- beziehungsweise Gesprächspartner sehen. Somit wird das Kind, dessen Eltern ihn als Ansprechpartner sehen, Selbstvertrauen gewinnen und gute Beziehungen mit seiner Familie aufbauen können. Es ist bekannt, dass der Prophet Muhammed, das schönste Vorbild für uns, Kinder besuchte, sie nach ihrer Lage und ihrem Wohlbefinden fragte, sich mit ihnen unterhielt und mit ihnen scherzte.
d. Auch, dass die Gerechtigkeit zwischen den Kindern gewahrt wird, ist ein Anrecht der Kinder über ihre Eltern. Aus welchem Grund auch immer sollte zwischen Kindern nicht ungerecht gehandelt werden. Der Gesandte Allahs mahnte ausdrücklich bezüglich dieser Angelegenheit. Eines Tages sagte ein Gefährte (Sahaba) namens Baschir, dass er einen Teil seines Vermögens seinem Sohn Nuʿman geben wolle und bat den Gesandten Allahs darum, dies zu bezeugen. Daraufhin fragte der Gesandte Allahs ihn, ob er seinen anderen Kindern auf die gleiche Weise etwas gegeben habe oder nicht. Als er als Antwort ein ‚Nein‘ bekam, sprach er: „Fürchtet Allah und handelt gerecht zwischen euren Kindern!“ (Muslim, Hiba, 13)
e. Eine weitere Aufgabe der Eltern gegenüber ihren Kindern ist, dass sie ihnen eine gute Bildung und Erziehung vermitteln. Gemäß dem Vers „Oh die ihr glaubt! Bewahrt euch selbst und eure Angehörigen vor einem Feuer, dessen Brennstoff Menschen und Steine sind…“ (at-Tahrim, 66/6) sollte im Kindheitsalter auf die Moral- und Verhaltenserziehung Gewicht gelegt werden. Die Aussage des Gesandten Allahs „Kein Vater schenkte seinem Kind eine wertvollere Gabe als das gute Benehmen.“ (Tirmidhi, Birr, 33) erinnert daran, dass wir uns eher darum bemühen sollten, unsere Kinder mit einem guten Ahlaq/Charakter zu erziehen, als uns für das Erbe, das wir ihnen hinterlassen, abmühen.
Eine gute Bildung und Erziehung ist allem voran dadurch möglich, das Kind gut zu kennen. Jede Altersphase hat eine eigene Natur, eigene Bedürfnisse und Eigenschaften. Diese Eigenschafften sollten bekannt sein, sodass die Vorgehensweisen und Methoden dementsprechend gestaltet werden können. Neben den Eigenschaften sollten auch die individuellen Unterschiede und Eigenschaften bekannt sein. Jeder Mensch hat einen anderen Charakter. Auch bei den Kindern macht sich dies bemerkbar, selbst wenn ihre Charakter noch in der Bildungsphase sind. Wenn ein Kind Angststörungen aufzeigt, so muss dies beachtet werden. Wenn es selbstunsicher ist, so muss bei der Äußerung von Kritik vorsichtig gehandelt werden. Wenn es wiederum perfektionistisch ist, so müssen die Erwartungen an das Kind mit Bedacht ausgewählt werden. Diejenigen, die diese Eigenschaften eines Kindes am besten kennen, sind die Eltern, die eine gesunde Beziehung zu ihrem Kind aufbauen. Um die Charakter unserer Kinder kennenzulernen, müssen wir regelmäßig qualitative Zeit mit ihnen verbringen. Das Planen von altersgemäßen Aktivitäten wird bewerkstelligen, dass qualitative Zeit miteinander verbracht wird. Bei jeder Möglichkeit Gespräche zu führen, aktiv zuzuhören und dem Erzählten Beachtung zu schenken wird es den Eltern erleichtern, ihre Kinder kennenzulernen. Falls möglich, sollte für diese Gespräche eine bestimmte Zeit festgelegt werden; falls nicht, so sollte das Gespräch bei jeder Möglichkeit aufgesucht werden. Essenszeiten, kurze Zusammentreffen vor und nach der Schule, Einkäufe, Zeit auf der Autofahrt und ähnliche Umstände sollten als Möglichkeiten zum Gespräch angesehen werden; und kein einziger der zusammen verbrachten Momente sollte für das Fernsehen, das Internet oder das Handy geopfert werden. Denn das Kind, mit dem das Gespräch heute vernachlässigt wird, wird morgen keine Zeit und kein Interesse aufbringen, um uns zuzuhören.
Bei Gesprächen mit Kindern, die geführt werden, um sie besser kennenzulernen und mehr geteilte Gemeinsamkeiten zu finden, sind folgende Grundsätze zu beachten:
1. Beim Reden sollten Ansprachen, Verurteilungen, Drohungen und Kritik gemieden werden.
2. Die Kritik und das Lob in entsprechenden Situationen sollten nicht der Persönlichkeit des Kindes, sondern seinen Handlungen gelten.
3. Man sollte sich dem Kind gegenüber nicht zynisch und höhnisch verhalten.
4. Es sollte eine positive Ausdrucksweise benutzt werden.
5. Das Kind sollte aufgrund seiner falschen Handlung nicht beschuldigt werden, stattdessen sollte eine Alternative bezüglich des richtigen Handelns aufgezeigt werden.
6. Dem Kind sollte dabei geholfen werden, sich richtig auszudrücken; es sollte die Zufriedenheit aufgrund des Gesprächs spüren.
Die Bildung und Erziehung, die wir unserem Kind geben, können erst dann wirksam werden, wenn wir ihnen als Vorbild dienen.
Es ist von großer Bedeutung, dass wir die Handlungs- und Verhaltensweisen, die wir unserem Kind eingeben möchten, selbst aufzeigen. Denn Kinder achten eher auf die Handlungen als auf die Aussagen der Eltern. Aus diesem Grund ist die Übereinstimmung von Aussagen und Taten unerlässlich.
Andererseits ist es offensichtlich, dass Kinder keinem Wort ihrer lügenden Eltern vertrauen werden. In diesem Rahmen zeigt die Situation, die Layla bint Abu Hathma - eine Gefährtin des Propheten, die sowohl nach Medina als auch nach Abessinien auswanderte –während einem Besuch des Propheten (saw.) erlebte, wie sehr auf die Aussagen gegenüber den Kindern geachtet werden sollte. Diese Gefährtin des Propheten rief ihr Kind mit dem Versprechen, ihm etwas zu geben, zu sich, um es zu beschwichtigen. Der Prophet Muhammed fragte sie, was sie ihrem Kind geben wird, und sagte dann: „Würdest du dem Kind nichts geben, so würde dieses Wort in dein Buch (der Taten) als eine Lüge niedergeschrieben werden.“ (Abu Dawud, Adab, 88)
f. In der Entwicklung der Kinder spielen Verantwortungen eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund muss dem Kind Aufgaben und Verantwortungen gegeben werden, die seinem Alter entsprechen. Ein Kind, dessen Verantwortungen und Pflichten bekannt sind, wird sich bezüglich der Disziplin und dem Zeitmanagement nicht schwertun. Insbesondere, dass das Kind vor der Gewöhnungsphase an das Ritualgebet lernt, Verantwortungen und Pflichten im Haushalt auf sich zu nehmen, wird dazu beitragen, dass das Kind sich an diese Glaubenspraxis (Ibadah) gewöhnt. In diesem Rahmen kann dem Kind ab dem 2.-3. Jahr passende Verantwortung übertragen werden. Mit dem Wachstum können die Aufgaben erweitert und in ihrer Vielfalt gesteigert werden. Andererseits sollten in der Familie und im Haushalt Regeln festgelegt werden, über die sich das Kind klar sein sollte. Ein Kind, das die Regeln in der Familien nicht wahrnimmt, wird sich auch beim Verstehen und Einhalten der gesellschaftlichen sowie religiösen Regeln und Auflagen schwertun.
g. Kinder wachsen gesund und bekömmlich wie Blumen, wenn sich jemand um sie kümmert. Aus diesem Grund sollten sich Eltern um sie kümmern; sie sollten sich mit ihrer schulischen Situation, ihren Freundschaftsbeziehungen, ihrer Moral und ihren Gefühlen befassen. Insbesondere für diejenigen, die in Ländern mit anderen Kulturen und Religionen leben, ist diese Kenntnisnahme noch wichtiger und unerlässlich. Denn der grundlegendste Bezug des Kindes zu seiner Religion, Sprache und Kultur ist seine Familie. Das Kind, das eine enge Beziehung zu seiner Familie besitzt, wird auch zu seiner Kultur, Religion und Sprache eine enge, feste Beziehung aufbauen.
h. Die Eltern, die ihr Kind im Kleinkindsalter und frühen Kindheitsalter mit Liebe und Barmherzigkeit behandelten, sollten im Jugendalter des Kindes zusätzlich noch mehr Verständnis und Respekt aufbringen. Denn das Jugend- und Jünglingsalter, das mit der Pubertät beginnt, bringt viele Unterschiede mit sich. Die Pubertät kann Zustände wie der Wunsch nach dem Alleinsein, allgemeine Abgeneigtheit und Lustlosigkeit, Trotz gegenüber der Gesellschaft und Autoritäten, gesteigerter Emotionalität sowie geringe Selbstsicherheit herbeiführen. Junge Menschen, die als Individuum vortreten und mit ihrer eigenen Beschaffenheit und Persönlichkeit akzeptiert werden möchten, erwarten Respekt und Unterstützung. Die Ersten, die diesen Respekt und die erhoffte Unterstützung entgegenbringen, sollten die Familienmitglieder sein. Wird diese Erwartung außerhalb der Familie erfüllt, so kann dies einerseits zur Beeinträchtigung der Familienbande und andererseits zum Missbrauch der Gefühle des Jugendlichen führen. Organisationen und verschiedene Vereinigungen wählen ihre Zielgruppe genau nach diesen Umständen. Das Vertrauen, der Respekt und die Unterstützung der Familie gegenüber dem Jugendlichen wird solchen negativen Geschehnissen zuvorkommen. Der Prophet Muhammed (saw.) gab seinen jugendlichen Gefährten wichtige Aufgaben, vertraute ihnen und unterstützte sie.
Der hauptsächliche Punkt bei all diesen Bemühungen ist nicht zu vergessen, dass die Erziehung eines Kindes Teamarbeit erfordert. Ehepaare, Verwandte und Mitmenschen sollten versuchen, das Kind zu erziehen. Dabei sollten sie hinsichtlich des Rechten und der Prinzipien einer Meinung sein. Aus diesem Grund sollten - falls vorhanden - Unstimmigkeiten und unterschiedliche Meinungen unter vier Augen geklärt werden, wenn das Kind nicht anwesend ist. Eheleute sollten sich gegenseitig neben ihren Kindern nicht kritisieren und Gespräche vermeiden, die ihre Autorität in Frage stellen könnten. Denn solche Verhaltensweisen werden dazu führen, dass das Vertrauen des Kindes in seine Eltern schwindet, was wiederum der ganzen Familie schaden wird.
1 Der Tag des Jüngsten Gerichts ist der Tag, an dem die Menschen aufgrund ihrer Taten auf der Welt im Jenseits von Allah zur Rechenschaft gezogen werden.
2 Maschruʿ bedeutet „das, was die Religion und die Gesetzgebung als Richtig erachtet, das gesetzlich Legitime, Legale.“
3 Das schöne und laute Rezitieren des heiligen Korans gemäß der Regeln wird Tilawah genannt.
4 Das Aqiqah-Opfer ist ein Opfer, das in den ersten Tagen nach der Geburt eines Kindes als ein Ausdruck des Dankes für die Gabe Allahs geschächtet wird.
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