Warum wird gefastet?

Wenn das Fasten lediglich als ein Akt des Hungerns und Durstens verstanden wird, können Fragen wie „Warum fasten wir?“ und „Was bringt das Hungern und Dursten dem Menschen?“ aufkommen. Wie jedoch auch in den oben genannten Versen und Ahadithen betont wurde, ist das Fasten eine unerlässliche Bedingung, um Muslim zu sein. Es ist unvorstellbar, dass eine Person, die an Allah glaubt und kundgibt, dass sie Muslim ist, nicht fastet. Die Glaubenspraxis des Fastens ist allem voran ein Zeichen und Beweis unseres Glaubens als Muslime. Es ist der schönste Ausdruck unserer Hingabe, Nähe und Danksagung an unseren Herrn. Dass lediglich für Ihn und für Sein Wohlgefallen selbst das Essen und Trinken unterlassen werden kann, ist ein Zeichen unserer Aufrichtigkeit. Der Gesandte Allahs wies mit folgenden Worten auf diese Dimension des Fastens, das ein aufrichtiges Aufzeigen der Hingabe und Dienerschaft für Allah ist, hin:
„…Ich schwöre bei Allah, Der mich am Leben erhält, dass der Mundgeruch des Fastenden bei Allah lieblicher ist als der Moschus-Duft. (Allah spricht für den Fastenden Folgendes): ‚Er unterlässt sein Essen, Trinken und seine Wollust lediglich für Mich. Das Fasten ist für Mich. Ich persönlich werde die Belohnung hierfür vergeben. Und für eine Wohltat wird es zehnfachen Lohn (Sawab) geben.“ (Bukhari, Sawm, 2)
Eine Person, die mit aufrichtigen Gefühlen, fern von Riya1 und nur für Allah fastet, wird einzigartige Belohnungen erlangen. Sie wird sich auf eine spirituelle Reise in ihre eigene Innenwelt begeben, sich in Seelenruhe ihrem Herrn hinwenden, verspüren, dass sie sich Ihm nähert und die Erwiderung reichlich zu sehen bekommen. Sie wird die Ruhe, die das Fasten in ihre Seele einbringt, kosten; spüren, dass sie mit der Gnade ihres Herrn umgeben wird und in geistlicher Sicht eine besondere Erfahrung erleben. Aus diesem Grund können wir die Situation einer fastenden Person -ihre diesbezüglichen geistlichen Erlebnisse und Erfahrungen ignorierend- nicht nur als ein Hungern und Verdursten sehen und das Fasten nicht mit solch einer Definition begrenzen. Der körperliche Hunger einer Person verhindert nicht das Erlebnis einer spirituellen Befriedigung, sondern verhilft zur Erziehung ihres Körpers und ihrer Triebseele (Nafs), indem er die Person erleichtert und beruhigt. Somit rettet sich der fastende Mensch von der Dominanz seiner menschlichen Gelüste und befreit seine Iradah2
In dieser Hinsicht ist das Fasten eine „Erziehung der Willenskraft“. Denn dass die Person alleinig für das Erlangen des Wohlgefallen Allahs von grundlegenden Bedürfnissen absieht und den Wünschen seiner Triebseele entgegensetzt, erfordert eine standhafte Willenskraft. Das Fasten erfordert die gänzliche Beherrschung der Triebseele, die Prüfung der Geduld zu bestehen und sich selbst mit einer bestimmten Disziplin unter Kontrolle zu halten. In dieser Hinsicht ist das Fasten eine große Chance, damit der Mensch seine Willenskraft beherrscht, seine Persönlichkeit stärkt und sich sowohl geistlich als auch körperlich bändigt. Wenn der Mensch diese Chance entsprechend verwerten kann, findet er seinen persönlichen Frieden, erkennt die positive Wirkung eines jeden Fasttages und erneuert regelrecht das Vertrauen. Die Person, die in der spirituellen Atmosphäre des Ramadan aufatmet, erzieht sich mit dem Fasten fern von jeglichen Streitigkeiten; sie verspürt, wie die Gefühle des Friedens, der Ruhe, der Gesetztheit, und der Taqwa3 ihre negativen Seiten überwinden und wie sie förmlich engelhaft wird. 
Das Fasten beschützt uns gegen jegliches Übel und ist regelrecht ein Schutzschild. Der Gesandte Allahs sprach:
„Das Fasten ist ein Schutzschild (, der seinen Besitzer beschützt). Der Fastende soll nichts Respektloses tun und nicht unanständig reden. Wenn jemand mit ihm zu streiten oder ihn zu beschimpfen versucht, so soll er zweimal ‚Ich faste.‘ sagen…“ (Bukhari, Sawm, 2)
Diese Worte des Gesandten Allahs zeigen auf, dass das Fasten den Menschen vor Üblem, Sünden sowie teuflischen und wollüstigen Trieben schützt und nicht bedeutet, sich lediglich der Nahrungszufuhr zu enthalten. Dies hingegen ist nur dann möglich, wenn die fastende Person neben ihren Glaubenspraxen auch auf ihre moralischen Handlungen achtet. Das Fasten einer Person gewinnt dann an Bedeutung, wenn sie ihre Hand, ihre Zunge und ihr Herz beherrscht und ihre triebhaften Wünsche zügelt. Anderenfalls, also wenn sie ihre Zunge nicht vor Ghiybah (der üblen Nachrede), der Lüge und vor üblen Worten schützen kann, sie ihr Herz nicht vor der Missgunst, Nifaq (Zwietracht, Heuchelei) und der Hypokrisie bewahren kann und sich nicht davor scheut, andere Menschen schlecht zu behandeln und ihnen zu schaden, so ist das Fasten weit weniger als ein schützender Schild. Und laut der Aussage des Gesandten Allahs bleibt diesen Personen nur der Hunger und Durst übrig:
„Wie viele fastende Personen es doch gibt, denen vom Fasten lediglich das Hungern zuteilwird. Und wie viele Personen es doch gibt, die die Nacht mit Glaubenspraxen verbringen, denen vom Qiyam aber lediglich die Schlaflosigkeit zuteilwird.“ (Ibn Madscha, Siyam, 21)
Auch das Fasten besitzt einen Geist. Um diesen Geist zu erfassen, sollte die Person sich dem Fasten unter Beachtung des Wohlgefallen Allahs, mit Ihlas4 und Taqwa nähern und die Moral nicht vom Fasten abgesondert betrachten. Denn anderenfalls bringt jegliche Ibadah, die nicht rechtmäßig verrichtet wurde, keinem einen Nutzen und auch unser Herr hat diese nicht nötig: 
„Allah braucht es nicht, dass derjenige, der nicht vom Lügen und dem Handeln nach der Lüge ablässt, das Essen und Trinken unterlässt.“ (Bukhari, Sawm, 8)
So wie das Fasten dazu führt, dass der Mensch auf seiner geistlichen Reise fortschreitet, baut es auch seine Beziehung zu anderen Menschen aus. Der Fastende erkennt den Wert der Gaben, von denen er, auch wenn nur eine bestimmte Zeit lang, fortbleibt. Er erlebt, was Hunger und Durst bedeuten, und schätzt die Gaben in seinem Besitz wert. Indem er die Lage derer, denen diese Gaben entbehrt bleiben, besser versteht, hat er die Möglichkeit, Empathie zu entwickeln. Das Fasten trägt dazu bei, dass die Menschen der heutigen Zeit, die mehr als genug Möglichkeiten besitzen, im Egoismus und Ehrgeiz wetteifern und im Luxus und der Verschwendung schwimmen, die Probleme der Bedürftigen und der Menschen, die ein Leben in Not führen, einfühlen. Durch Praktiken wie Zakah, Sadaqah5, Infak6, zu denen insbesondere im Ramadan angeregt wird, wird der Mensch bezüglich der sozialen Hilfeleistung und der Solidarität gefördert. Somit trägt das Fasten dazu bei, dass der Mensch sowohl sich selbst als auch andere Menschen besser verstehen kann, diesbezüglich ein Empfindungsvermögen aufbaut und zu einem sensitiveren Menschen in psychologischer und sozialer Hinsicht reift. 


1 Riya (Heuchelei) beschreibt die Zurschaustellung von Aussagen, Taten und Verhaltensweisen, die eigentlich für Allah vorgeführt werden sollten. 

2 Iradah beschreibt die Willenskraft, mit der der Mensch sich für eine Tat entscheiden und diese durchführen kann.
3 Taqwa (die Tugendhaftigkeit) beschreibt die Sorgfalt hinsichtlich der Einhaltung von religiösen Geboten und Verboten. 
4 Ihlas bedeutet, die Glaubenspraxen unter der Berücksichtigung des Wohlgefallen Allahs in Aufrichtigkeit zu verrichten. 
5 Sadaqah beschreibt alle Gaben und Wohltaten an Bedürftige für das Wohlgefallen Allahs und ohne die Erwartung einer Gegenleistung. 
6 Als Infak wird die Ausgabe/Spende bezeichnet, mit der das Wohlgefallen Allahs erzielt wird.

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